Ein Wanderer ging an einem Strand entlang und hielt Ausschau nach Zeichen für seinen persönlichen Lebensweg, da er schon viele Jahre auf der Suche nach seiner Berufung war. Er wusste um sein Können und seine Talente, in deren Ausarbeitung er sich intensiv und mit Hingabe erprobte. Dennoch war er nie vollends erfüllt, von dem, was er tat. Er suchte immer weiter und er war zögerlich, sich ganz seinen Fähigkeiten zu verschreiben. Das Meer hatte viele farbige Steine an den Strand gespült und mit jeder Welle, nachdem sie gebrochen und die Schaumkrone im Sand versickert war, wurden weitere zu Tage gefördert. Der Wanderer war fasziniert von ihrer Vielfalt und ihrer Schönheit und immer wieder passierte es, dass manche seine besondere Aufmerksamkeit erregten.

Eine Welle spülte einen glänzenden grünen Stein frei. Er hob ihn auf, hielt ihn ins Wasser, um ihn vom Sand zu befreien, legte ihn auf die flach ausgestreckte Innenseite seiner linken Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Der Stein war trapezförmig und sah aus wie ein Berg. Er hatte von allen Seiten steile Flanken und war auf seinem Kamm von einer dünnen weißen Linie aus Quarzkristall durchzogen. Der Wanderer spürte, dass er mit dem Stein in Resonanz gegangen war und sprach leise zu ihm.
»Du Stein, stehst für den Berg, den ich noch überwinden muss, bevor ich meine Bestimmung finde.«
Er betrachtete den Stein noch eine Weile, und spürte die Worte nach, die er eben zu dem Stein gesagt hatte, und sie fühlten sich für ihn gut an. Tief berührt von seiner eigenen Erkenntnis steckte er den Stein in seine Hosentasche. Er wollte ihn ganz nah bei sich spüren, damit er sich jederzeit die Erkenntnis nochmal in sein Gedächtnis rufen könnte, wenn es notwendig wäre. So setzte er seinen Weg fort. Nur wenige Schritte weiter blieb er wieder stehen, denn die Beschaffenheit eines anderen Steins irritierte ihn so sehr, dass er ihn aus dem Sand freilegen musste. Dieser Stein war nicht schön, er sah aus, als ob er von vielen weißen Schnüren, die kreuz und quer um ihn herumgebunden waren, zusammengehalten wurde. Dem Wanderer war sofort klar, was dieser Stein ihm zeigen wollte und gedanklich formulierte er: »Du bist das verwundete Herz, das noch heilen muss, bevor ich mich auf einen neuen Weg einlassen kann.« Dankbar für die Erkenntnis, steckte er auch diesen Stein zu dem anderen in seine Hosentasche.

Er ging seinen Weg weiter, hob viele Steine auf, in denen er jedoch nichts erkannte und so schleuderte er sie zurück ins Meer. Mit einem Mal fühlte er sich beobachtet, denn ein großes Auge schaute ihn aus dem aus Sand an. Es fixierte ihn und er fixierte es, und er hatte das Bedürfnis laut zu sprechen, denn dieser Stein musste eine besondere Bedeutung haben. Er sagte zu dem Auge:
»Du bist das Auge, das genau hinschauen muss, was noch fehlt, damit ich mein Lebensziel finde.«

Glücklich und zufrieden über das, was er erlebt hatte, ließ er seinen Blick über das Meer gleiten, an dessen Horizont die Sonne sich anschickte, im Meer zu versinken. Das Licht hatte einen goldenen Farbton angenommen und er fühlte sich von der immer noch warmen Seeluft wohlig umschmeichelt. Er fand noch zwei weitere Steine, die er weniger beachtete, aber dennoch einsteckte, weil sie denselben grünen Farbton hatten, wie die anderen, der ihm besonders gut gefiel.
Als die Nacht hereinbrach, betrachtete er die Steine im Schein einer Kerze noch einmal genau. Sie hatten etwas von ihrem Glanz und ihrer Anziehungskraft verloren, weil sie inzwischen getrocknet waren, dennoch konnte er nachempfinden, was er zuvor in ihnen erkannt hatte. Ihm kam in den Sinn, dass wenn Steine so alt waren, wie die Gelehrten behaupteten, dann mussten sie auch die Weisheit über die Menschen und alles Leben innehaben. Er beschloss sie zu fragen, ob sie das seien, was er in ihnen gesehen hatte. Zu seiner großen Verwunderung, denn er glaubte nicht an magischen Steinzauber, antworteten sie ihm.
Der erste Stein sagte: »Wenn du der Meinung bist, dass du noch einen weiteren Berg besteigen musst, bevor du deiner Bestimmung nachgehen kannst, so will ich dieser Berg für dich sein.«
Der zweite Stein fuhr fort: »Wenn du der Meinung bist, dass dein Herz noch immer offene Wunden hat, die geheilt werden müssen, so will ich gerne dieser Stein für dich sein.«
Der dritte Stein, der wirklich beeindruckend einem Auge glich, sagte zum Wanderer: »Wenn du der Meinung bist, dass du immer noch Ausschau halten musst, warum sich dein Leben nicht verändert, so will ich dieser Stein für dich sein.«

Der vierte Stein war klein und unscheinbar und der fünfte Stein ein Vielfaches des Kleinen. Obwohl er ihnen keine Bedeutung zugemessen hatte, sprachen auch sie zu ihm.
»Ich bin dein kleines Ich. Ich kann aus eigener Kraft nicht mehr wachsen, und bald werde ich ganz verschwunden sein. Ich bin leicht und werde dir nicht zu Last fallen. Du kannst dich an mir erfreuen, aber weil ich klein und unauffällig bin, wirst du mit mir an deiner Seite keine besondere Aufmerksamkeit erregen.«

Unmittelbar danach hörte er dem großen Pendant zu. »Ich bin dein großes Ich, auch ich werde mit der Zeit immer kleiner, aber das erlebst du nicht mehr. Wenn du mich behältst, wird es Momente geben, an denen du schwer mit mir zu tragen hast und du wirst dir wünschen, mich nicht eingesteckt zu haben. Dafür bin ich groß und stark und habe viel Energie gespeichert. Solltest du einmal nicht weiterkommen oder in Not sein, dann habe ich genug Kraft, Mauern zu zerbrechen und alle Hindernisse zu überwinden.«

Der Wanderer bedankte sich bei den Steinen für ihre Offenheit und ihm dämmerte, dass er etwas gefunden hatte, das er nie gesucht, ihm jedoch die Antwort auf seine Fragen gegeben hatte.

3 Steine